Montag, 5. August 2024

Was ist ein Gedicht?

 Wie erkennt man ein Gedicht?

Natürlich könnte man jetzt zu Aristoteles im antiken Griechenland zurückgehen, um mit einer Antwort zu kommen. Aber ich möchte mal in diesem Zeitalter bleiben.



Form

1. Ein Gedicht erkennt man oft schon an der äußerlichen Form. In der Regel wird die Zeilenlänge nicht voll ausgenutzt, weil nicht der Dokumentenrand, sondern der Versbau die Zeilenlänge bestimmt.

Oft wird für ein einzelnes Gedicht keine ganze Dokumentenseite benötigt. Beispiele für Ausnahmen sind manche antike Hymnen von Homer oder Balladen, die häufig viele Verse haben. Schillers 'Glocke' ist auch ein Beispiel. Die Strophe wiederum ist optisch gut zu erkennen.

Beispiel 1, Anfang des Hymnus 'An den delfischen Apollon' von Homer:

"Denken und nimmer vergessen will ich des Schützen Apollon,
den selbst Götter fürchten, wenn er dem Hause Kronions
naht; und sie erheben sich gleich, sobald er herankommt,
....."

Beispiel 2, aus "Die Kraniche des Ibycus" von Friedrich Schiller:

" Und schwer getroffen sinkt er nieder,
Da rauscht der Kraniche Gefieder,
Er hört, schon kann er nicht mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn.
"Von euch ihr Kraniche dort oben!
Wenn keine andre Stimme spricht,
Sey meines Mordes Klag' erhoben!"
Er ruft es, und sein Auge Bricht.

Der nackte Leichnam wird gefunden, 
und bald, obgleich entstellt von Wunden,
.... " 


Inhalt

2. Ein Gedicht unterscheidet sich sprachlich von Prosatexten. Vom Drama unterscheidet es sich durch die Länge. Im Drama und in Prosa gibt es immer eine Handlung, einen Erzählstrang, der sich durch die Geschichte zieht. 
Ein Gedicht erzählt nicht, sondern "malt" mit Worten ein Bild, eine Stimmung.

Aufbau

3. Im Gedicht wird sehr stark mit rhetorischen Stilmitteln gearbeitet, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen. In der Prosa spielen Stilmittel eine untergeordnete Rolle. Hier prägt eher der persönliche Schreibstil. Ausnahme ist hier, wenn man sie zu Prosatexten dazu nimmt, die Rede, die natürlich durch Verwendung von Stilmitteln auf Wirkung abzielt. 
Seltener spielen rhetorische Stilmittel eine bedeutende Rolle im Drama. Bewundernswerte Ausnahme ist hier sind hier Shakespeares Werke. Und denken wir auch an die zu Redensarten gewordenen Sätze in Schillers Dramen, zum Beispiel im Wilhelm Tell: "Die Axt im Haus erspart den Zimmermann."
Ein Gedicht dagegen kommt ohne eine Umdeutung der Worte nicht aus.


Grenzüberschreitungen

4. Wie schon an den genannten Beispielen zu erkennen ist, bildet Schubladendenken in der Literatur nur ein grobes Raster zur Klassifizierung, das nur ein erster Schritt auf dem Weg des Einordnens und Verstehens ist. Noch zwei weitere Beispiele:
Die Ballade besteht zwar meistens aus Strophen, die auch oft eine sich wiederholende Struktur haben, ist sonst aber eher arm an Stilmitteln. Dafür erzählt eine Ballade eine Geschichte.
Der Roman 'bukolit' von Elfriede Jelinek sprengt in mehrfacher Hinsicht die üblichen Grenzen eines Romans.

Fazit

Im Grunde genommen ist ein Gedicht, wenn man je mal eines gelesen hat, leicht zu erkennen, sei es durch die äußere Form, sei es durch die besondere Verwendung von Sprache.
Wie unterschiedlich Sprache verwendet wird (Stilmittel, Reime, Strophen, Verse) hängt von der Form des Gedichtes ab. Da es davon aber sehr viele gibt, und - wie schon im letzten Abschnitt erklärt - Literatur wandelbar ist, sollte dieses Thema in einem weiteren Blogartikel behandelt werden.

 

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