Um die Hausecke biegend sehe ich sie. Mein Herz klopft vor Freude. Hier hat sich nichts verändert. Nur im Haus wohnt jemand anderes. Wir haben uns angefreundet.
Der Garten ist nicht mehr, aber die Mauer hinten am Hof steht noch da. In gewohnten Bewegungen steige ich hinauf und lege mich mit meinem Rücken auf die Mauer. Ich drehe den Kopf auf die Seite und schaue über die Felder, hin zu den Bahngleisen und weiter. Ich schaue in den Himmel hinein.
Dann schließe ich meine Augen und lasse mich auf der Mauer von der Sonne wärmen.
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“Hol’ mal Kartoffeln aus dem Keller.” Ich ahne die Worte nur, die mir meine Mutter vom Treppenhausfenster aus zuzurufen versucht.
Deshalb ist die Mauer mein Lieblingsplatz. Hier kann ich träumen, kann weit blicken, kann manchmal meinem Vater bei der Gartenpflege zuschauen. Die Worte meiner Mutter erreichen mich nicht.
Es ist Sommer und so herrlich warm. Im Garten blüht es in vielen Farben. Das Getreide auf den Feldern wird bald reif sein. Mein Bruder hat gerade den Rasen gemäht und so liegt der Duft von frischem Gras in der Luft. Ich liebe den Sommer. In zweieinhalb Wochen habe ich Geburtstag, und danach sind die Sommerferien vorbei. Was das neue Schuljahr wohl bringen mag?
Es wurde ein aufregendes neues Jahr. Ich saß neben meinem heimlichen ersten Jugendschwarm und einer lieben Freundin. Der Ausblick aus dem Klassenzimmer war super, denn der Raum lag im obersten Stockwerk der Schule und der Blick reichte über die Silhouette der Stadt hinweg. Ich mag weite Ausblicke.
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Ich hatte mit einem Tanzkurs begonnen. Mit meinen schlacksigen, viel zu langen Armen und Beinen versuchte ich mich in die Musik einzufühlen. Nur beim schnellen Walzer gelang mir das sofort. Der erste Kuss kam nach einer dieser Tanzstunden. Ach, die Jugend!
Der Herbst verging. Ein schöner Herbst mit Herzklopfen und kleinen dummen Dingen, die verliebte Teenager so machen.
“Im November fahre ich zur Spielwarenmesse. An dem Wochenende telefonieren wir dann nur, ja?”
“Klar. Und wenn du wieder da bist, erzählst du mir alles.”
“Mach ich.”
Im November machte meine Mutter eine dieser Kuren, die in den Siebzigern und Achtzigern so gerne verschrieben wurden.
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“Wollen wir deine Mutter am Wochenende besuchen fahren?”
“Na klar.”
Schnee lag im November. Aber das kam in diesen Jahren hin und wieder vor. Wir packten die Skier ins Auto und machten uns auf den Weg, und zwei Stunden später tranken wir mit meiner Mutter zusammen Kaffee.
“Der Typ da drüben ist sehr nett. Manchmal gehe ich mit ihm zum Schwofen.” Vor zwei Tagen hatte mein Vater meine Mutter besucht.
Nach dem Kaffee fuhren wir wieder los, parkten das Auto und zogen die Skier an. Im geloipten Schnee, auf entgleistem alten Bahndamm liefen die Skier leicht neben der neuen Eisenbahnstrecke her. Das ist die letzte Erinnerung. Danach ist an guten Tagen Nebelgewölk in meinem Kopf mit verschwommenen Umrissen. Meistens jedoch Ohnmacht. Alles wird schwarz und ich versinke in Vergessenheit.
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Am frühen Abend finde ich mich zuhause auf dem Hausflur im ersten Stock wieder. Es kommt selten vor, dass niemand zuhause ist. Nur ich. Und das wird mir gerade viel zu viel. Etwas ist zerbrochen. Ich kann mich nicht mehr zusammensetzen. Bin ich noch sechzehn oder noch fünfzehn oder schon zwanzig? Was war gestern für ein Tag? Ach ja, mein Freund kommt ja erst morgen Abend wieder zurück.
Einmalig, zum ersten Mal, schwindelig steige ich die Treppe zum Boden hoch. In einer Kammer ganz offen steht der Alkohol meiner Eltern. In diesem Haus wird nur zu Feierlichkeiten getrunken. Die Flaschen sind alt. Wahllos greife ich eine und setze an.
Nachts wird mir übel. Das ist mir peinlich. Noch ein erstes Mal. Wann werde ich mich davon erholen?
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Ich öffne kurz meine Augen und bewege etwas meine Beine auf der Gartenmauer liegend. Es ist erst wenige Wochen her, dass ich das wieder uneingeschränkt tun kann. Sechsunddreißig Jahre lang nicht. Sechsunddreißig Jahre vergaß mein Körper nicht, aber ich, wie der Schaden zustande kam.
Das heißt, mit der Zeit blitzen aus den Nebelfetzen in meinem Kopf scharfe Umrisse auf, mehr nicht. Minuten des Vergessens. Lebensminuten verloren, vergessen.
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Nur einen Satz, den letzten vor Antritt der Rückfahrt vom Skifahren, habe ich nie vergessen. Er steht klar vor mir: “Erzähle niemanden davon. Es wird dir sowieso niemand glauben.”
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Circa zwanzig Jahre später hörte ich denselben Satz noch einmal. Diesmal von einem Polizisten im Geschäft meines Exmannes nach Ladenschluss. Diesmal gab es keine Nebelschwaden in meinem Kopf, sondern nur Klarheit und Schmerz.
Schmerz auch über den Verlust der Wahrheit.
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